Text von Stefan Lindl

Die Grundlage für diese Zeichnungen sind formal-systematische Vorgaben: Ein Kreis ist kreisrund, ein aus gleichlangen Balken bestehendes Schweizerkreuz, das gekippt auf zwei Balkenecken steht, ist ebenso klar definiert wie ein auf einer Ecke stehendes Quadrat. Zu den systematischen Vorgaben gehört auch die Anzahl der Quadrate und Quadratreihen, aus denen sich die Formen ergeben sollen. Würde Christian Heß mit diesen Regeln einen Computer füttern, der die gestalterische Aufgabe übernehmen sollte, ergäben sich regelmäßige Formen, die sich alle auf die exakt dargestellten Seitenlängen der kleinen Grundquadrate zurückführen ließen. Die Maschine, die strikt nach der Systematik arbeitete, ließe keine Asymmetrie zu. Gleiches Maß für alles! Nicht so bei dem System-Rebellen Heß. Wenn er mit einer bestimmten Anzahl von Quadraten und Reihen Kreuz und Kreis mit Tusche und Feder zeichnet, entstehen Zerrgebilde. Aus dem Kreis wird eine Ellipse, aus dem gekippten Schweizerkreuz wird ein langgezogenes Andreaskreuz, das Quadrat verwandelt sich in eine Raute. Die Formen ziehen sich, verformen sich, verlieren ihre vorbestimmte Symmetrie, sind eigen. Zwar verwendet Christian Heß kleine Quadrate, wie es auch der Computer tun würde, aber die sind nicht immer gleich maschinell exakt, sondern menschlich individuell. Einmal größer einmal kleiner, einmal länger, einmal breiter, einmal dünner, einmal dicker, intensiver, blasser.

Je nach Konzentration, je nach feinmotorischem Vermögen sowie Unvermögen, je nach Tintenmenge an der Feder. Es offenbart sich die Freiheit im Unfreien: Den systematischen Bedingungen „aus kleinen Quadraten Kreuz, Quadrat und Kreis zeichnen“ entzieht sich der Gestalter Heß keineswegs. Aber er erfüllt sie menschlich. Er begibt sich mit seiner Gestaltung in die Unfreiheit einer Systematik, seinen individuellen Möglichkeiten bleibt er jedoch treu, gestalterisch frei zu sein. Entfliehend, nicht-entfliehend verharrt er im System. Anders gesagt: Christian Heß verläßt System und Systematik, ohne sie zu verlassen. Hätte er an Stelle von Eva nach der Frucht des Baums der Erkenntnis gegriffen, er hätte es sicherlich auf seine rebellisch-subtile Weise getan: Gott wäre irritiert gewesen! Christian Heß sucht Freiheit und wohl auch den freien Willen in der umfassenden systematischen Unfreiheit und entdeckt dabei die Einzigartigkeit menschlichen Gestaltens. – Eine hoffnungsvolle Allegorie auf das tägliche Leben?